Ich gehe durch die Leichenhallen
Stell dir ein Feldlazarett vor. Umgeben von Steppe und Feldern siehst du große Zelte. Konventionell gesehen, rechts das Zelt für Schwerverletzte, links das Zelt für Tote. In dem einen Zelt schreien Soldaten vor Schmerz, im anderen weinen die Angehörigen der Gefallenen.
Wenn russische Raketen in Wohnhäuser einschlagen, wo ganz normale Menschen leben, weiß ich, dass ich gebraucht werde. Ich fahre mit den Angehörigen der Opfer zu den Leichenhallen, um die Toten zu identifizieren. Oft müssen wir die Leichenteile wie ein Puzzle zusammensetzen. Es ist eine schreckliche Aufgabe, die Toten aus den Trümmern zu bergen und den Angehörigen bei der Identifizierung zu helfen. Diese Arbeit nenne ich "Spaziergang durch die Leichenhallen".
Wir haben den Krieg selbst herbeigeführt, indem wir unsere Sicherheit vernachlässigt haben. Angefangen beim Budapester Memorandum bis hin zur Ignoranz gegenüber US-Warnungen vor einer russischen Invasion. Wir hätten eine starke Armee aufbauen müssen, Befestigungen errichten und Waffen produzieren. Stattdessen haben wir den Russen vertraut. Viele Ukrainer hatten Sympathie für sie und glaubten an ihre Menschlichkeit. Hunderttausende von ihnen leben nicht mehr. Mit unserer Naivität haben wir die Russen quasi eingeladen. Das ist eine Lektion für viele Jahrzehnte.
Alle ukrainischen Kriegsgefangenen, die zurückkehren, leiden unter Spielsucht. Fast alle wurden gefoltert, misshandelt und haben den Tod ihrer Kameraden miterlebt. Die Zahl der psychisch Kranken steigt: Alkoholismus, Spielsucht, Drogenabhängigkeit. Die Folgen dieses Krieges werden wir noch 30-40 Jahre spüren.
Wenn man eine Gefahr ernst nimmt, kann man sich vorbereiten. Im Jahr 2014, als Russland erstmals in die Ukraine einmarschierte, habe ich in meinem Wohnhaus einen alten Bunker entdeckt und diesen umgehend renovieren lassen. Damals hat sich jedoch kaum jemand Gedanken über seine Sicherheit gemacht. Denn niemand hätte geglaubt, dass im 21. Jahrhundert die Russen zu Faschisten und Nazis werden und einen derart grausamen Krieg entfachen würden. Um sich vorzubereiten, muss man seine Denkweise ändern. Man muss die Realität akzeptieren, wie sie ist, und wachsam sein. Wir können unsere Nachbarn nicht ändern, aber wir können uns selbst schützen. Das Wichtigste ist, die Realität zu erkennen und nicht zu ignorieren.
Am 11. November 2022 befreiten die ukrainischen Streitkräfte Cherson und das rechte Ufer der Region Cherson. Ich war in dieser Zeit dort. Die meisten Bewohner in den befreiten Gebieten litten unter einem massiven Schockzustand. Sie lachten nervös, zappelten unruhig mit den Händen – Zeichen eines unterdrückten Stresses.
Die russischen Soldaten hatten sich einen grausamen Spaß daraus gemacht, auf die Beine von Menschen zu schießen, damit sie hochspringen. Ich habe einen 17-jährigen Jungen betreut, der nach solchen Torturen unter Enuresis und Stottern litt.
Die Menschen haben große Gruben gegraben, um ihre Kühe, Hühner, Gänse und Truthähne zu verstecken. Die Gruben wurden dann abgedeckt. Die Tiere wurden nachts gefüttert. Wenn die Russen Tiere fanden, nahmen sie sie mit. Menschen wurden verhaftet oder getötet.
Die russischen Soldaten haben auch gelernt, Drohnen zu benutzen. Ungeübte Drohnenpiloten der russischen Armee trainierten an der Zivilbevölkerung, weil das für sie am sichersten und bequemsten war. Zivilisten konnten sich nicht wehren. Das ist Völkermord.
Russische Truppen befinden sich am linken Ufer des Dnjepr in der Region Cherson. Von dort aus starten täglich Dutzende Drohnenangriffe auf die Zivilbevölkerung am rechten Ufer.
Kürzlich ereignete sich eine schreckliche Tragödie. Zwei Kinder lasen Nachrichten in einem lokalen Telegram-Chat. Dort werden oft aktuelle Videos vom Frontverlauf geteilt. Plötzlich sahen sie ein Video, das mit einer Aufklärungsdrohne aufgenommen wurde, vielleicht nur eine Stunde zuvor. Auf dem Video war zu sehen, wie eine russische Drohne das Auto ihres Vaters sprengte. Es war ein blaues Auto, und dann fiel ihre Mutter aus dem Auto. Die Kinder erkannten sie an den Haaren. Sie war tot. Aber ihr Vater überlebte. Die Kinder riefen die Rettungskräfte und retteten so das Leben ihres Vaters. Jetzt sind diese Kinder meine Patienten.
Ich muss genug schlafen. Ich stehe um 5:30 Uhr auf und gehe früh ins Bett. Jeden Morgen drehe ich meinen Hula-Hoop.
Natürlich ist es eine schwere Arbeit. Aber wenn es zu schwer wird, könnte ich auch Straßen kehren gehen, das wäre einfacher.
Ich höre den Geschichten der Menschen zu und lächle innerlich. Ich verstehe, dass wenn ein Mensch oder seine Angehörigen am Leben sind, alles reparierbar ist. Aber wenn ein Verlust unwiderruflich ist, dann ist das eine ganz andere Geschichte. Es ist falsch, die Probleme der Patienten auf sich zu nehmen. Man muss sich selbst erholen, wenn man viel gegeben hat.
Ich erzähle niemandem die Geschichten meiner Patienten. Das ist nicht nur unethisch, sondern auch sinnlos. Solche schrecklichen Geschichten braucht niemand zu hören. Egal welche Geschichte ich erzählen würde, sie wäre schockierend für Menschen, die nicht mit dem Krieg konfrontiert sind.
Ich glaube an Gott. Metaphorisch gesehen ist das wie ein hoher Berg, zu dem Millionen Wege führen. Ich habe meinen eigenen Weg.